§ 3 Abs. 1 S.1 des Notfallstufenbeschlusses des GBA

Hatte der Kaiser keine Kleider an?

Zur Entscheidung des Bundessozialgerichtes

vom 02.04.2025 (Az.: B 1 KR 25/23 R)

Sehr geehrte Damen und Herren,

mit Urteil vom 02.04.2025 hat das Bundessozialgericht auf die Revision einer Fachklinik für Augenheilkunde, deren Vorstand der Unterzeichner angehört, ein Urteil des Landessozialgerichtes Berlin-Brandenburg vom 22.06.2022 (Az.: L 9 KR 186/19 KL) aufgehoben. Mit diesem Urteil hatte das LSG eine Normenfeststellungsklage der Fachklinik gegen den Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses zu einem gestuften System von Notfallstrukturen in Krankenhäusern gem. § 136c Abs. 4 SGB V (Notfallstufen-Beschluss) abgewiesen.

Das Bundessozialgericht hat festgestellt, dass § 3 Abs. 2 S. 1 des Notfallstufenbeschlusses  nichtig ist. Diese Vorschrift lautet:

„Sofern ein Krankenhaus keiner der in Abs. 1 beschriebenen Stufen zuzuordnen ist und darüber hinaus keine der Voraussetzungen der Module nach § 4 erfüllt, nimmt es nicht an dem gestuften System von Notfallstrukturen, nach Maßgabe dieser Regelungen im entgeltrechtlichen Sinne, teil.“

Wann mit dem Vorliegen der schriftlichen Urteilsbegründung zu rechnen ist, kann derzeit nicht abgeschätzt werden. Bereits aus dem Terminsbericht, der im Anschluss an die Terminvorschau zur Verhandlung am 02.04.2025 über die Website des BSG zur Verfügung steht, ergeben sich aber einige Hinweise, die schon jetzt ausgewertet werden können:

  1. Das BSG hat die Vorschrift für nichtig erklärt. Dies beruht darauf, dass die Vorschrift nicht der Gesetzesgrundlage in § 136c Abs. 4 SGB V entspricht. Das BSG hatte insofern eine Verwerfungskompetenz für die durch einen untergesetzlichen Normgeber (GBA) erlassene Vorschrift.  Das Urteil erhebt somit m.E. über den konkreten Rechtsstreit, zu dem es ergangen ist, hinaus Anspruch auf Allgemeingültigkeit. M.E. kann § 3 Abs. 2 S. 1 Notfallstufen-Regelung daher – über das konkrete Revisionsverfahren hinaus – nicht mehr angewandt werden und nicht mehr zur Erhebung von Abschlägen wg. Nichtteilnahme an der strukturierten Notfallversorgung herangezogen werden.

Praktisch hat dies für die in der Vergangenheit von Abschlägen betroffenen Krankenhäuser m.E. folgende Auswirkungen:

  • In den anstehenden und u.U. bereits laufenden Budgetverhandlungen sollte nicht

mehr die Stufe der Nichtteilnahme an der Notfallversorgung vereinbart werden. Eine Rechtsgrundlage dafür existiert seit dem 02.04.2024 nicht mehr.

  • Es besteht somit auch keine Rechtsgrundlage mehr für die Erhebung von Abschlä-

gen auf die laufenden Krankenhausrechnungen. Es ist aber davon auszugehen,

dass die Krankenkassen dies nicht ohne weiteres akzeptieren werden und mindestens das Vorliegen der schriftlichen Urteilsbegründung abwarten wollen. In diesem Fall sollte man versuchen eine Vereinbarung darüber zutreffen, dass etwaige Abschläge nur unter dem Vorbehalt einer späteren Nachzahlung vorgenommen werden. Dies wird man möglicherweise nicht von jeder Krankenkasse erhalten können – insbesondere nicht von denjenigen, die nur einen geringen Belegungsanteil haben. Es sollte eine Diskussion darüber vermieden werden, ob eine entsprechende Regelung in der Budgetvereinbarung für solche Krankenkassen bindend sind, die nicht an den Verhandlungen beteiligt sind. Insofern werden sich möglicherweise in Einzelfällen Zahlungsklagen zum Sozialgericht nicht vermeiden lassen.

  • Sollten Sie ihre Budgetvereinbarung für 2025 bereits abgeschlossen haben und die

Nichtteilnahme – ohne Vorbehalt für das damals noch anhängige Revisionsverfahren bereits akzeptiert haben, sollten Sie mit den Verhandlungspartnern über eine entsprechende Anpassung verhandeln.

  • Sollten Sie in den vergangenen Budgetvereinbarungen einen Vorbehalt für die Frage

der Nichtteilnahme an der Notfallversorgung vereinbart haben, so sollten Sie jetzt mit den Krankenkassen darüber verhandeln, wie dieser Vorbehalt aufzulösen ist.

  • Sofern der GBA sich daran machen sollte, den monierten Beschluss auszubessern, so dürften der Entscheidung ebenfalls bereits einige Hinweise dazu zu entnehmen sein:

Das BSG stützt seine Entscheidung darauf, dass der GBA durch die bloß negativ erfolgte Definition der Nichtteilnahme an der Notfallversorgung den Normsetzungsauftrag des Gesetzgebers nicht hinreichend umgesetzt hat, eine eigenständige Stufe der Nichtteilnahme als Abschlagsstufe festzulegen. Dieses muss vielmehr in der Weise geschehen, dass Bedingungen festgelegt werden, unter denen ein Krankenhaus sich auch an der allgemeinen Notfallversorgung nicht beteiligt. Aus ihnen muss ein verminderter Aufwand im Sinne des § 17b Abs. 1a KHG hervorgehen, der es rechtfertigt, dass Krankenhaus in die einen Abschlag gebietende Stufe einzuordnen. Die bloß negative Abgrenzung zur Teilnahme am gestuften System genügt dafür nicht.

§ 17b Abs. 1a KHG besagt, dass bundeseinheitliche Regelungen für Zu- und Abschläge insbesondere für die Notfallversorgung zu vereinbaren sind, sofern allgemeine Krankenhausleistungen nicht oder noch nicht in die Entgelte nach Abs. 1 S. 1 (das ist das DRG-System) einbezogen werden können, weil der Finanzierungstatbestand nicht in allen Krankenhäusern vorliegt.

Es wird daher zur Bestimmung einer Stufe der Nichtteilnahme zunächst einmal erforderlich sein zu ermitteln, welche Finanzierungstatbestände nicht in allen Krankenhäusern vorliegen. Es bleibt abzuwarten, wie der GBA mit dieser Herausforderung ggf. umgehen wird. Bis dahin bleibt es aber m.E. dabei, dass solange keine Abschläge erhoben werden können.

  • Im  Übrigen ist die Notfallstufen-Regelung des GBA aber nicht „in toto“ für nichtig erklärt worden. D.h. es können auf dieser Grundlage insbesondere weiterhin Zuschläge für die Teilnahme an einer der Notfallstufen vereinbart und erhoben werden. Die bei der Bestimmung der Zuschläge gewollte, jedenfalls teilweise Quersubventionierung durch die Abschläge wegen Nichtteilnahme an der Notfallversorgung dürfte hingegen wegfallen. Ob die Spitzenverbände der Krankenkassen unter diesen Bedingungen an der mit der DKG getroffenen Notfallstufenvergütungsvereinbarung festhalten, bleibt abzuwarten.
  • Damit wird aber auch klar, dass auch bei einer Neureglung durch den GBA kein Platz mehr für den zwischen den Parteien der Selbstverwaltung vereinbarten pauschalen Abschlag in Höhe von € 60,00 ist. Dieser Betrag war das Produkt des früher gesetzlich festgelegten Betrages in Höhe von € 50,00, der um einen Inflationsaufschlag hochgesetzt wurde. Eine Ermittlung von Finanzierungstatbeständen, die nicht in allen Krankenhäusern vorhanden sind, hat zu keinem Zeitpunkt stattgefunden. Eine Unterstützung durch das InEK, wie in § 9 Abs. 1a Nr. 5 KHEntgG ausdrücklich gefordert,  hat ebenfalls nicht stattgefunden. Ein neuer Abschlag müsste erheblich niedriger ausfallen.

Ob die Spitzenverbände das Urteil zum Anlass nehmen werden, die Notfallstufenvergütungsvereinbarung zu überarbeiten bleibt ebenfalls abzuwarten. Wenn man das aber tatsächlich in Angriff nehmen will, so wird man – unabhängig von den Auswirkungen des BSG-Urteils – prüfen müssen, ob für Zu- und Abschläge im klassischen Sinne überhaupt noch Raum ist:

  •     Zum einen stammt die Vereinbarung aus der Zeit vor Inkrafttreten der Regelungen zur Pflege-DRG. Wegen der damit – zumindest teilweisen – Rückkehr zur Kostenerstattung, fragt sich, wie man Zuschläge überhaupt begründen kann.
  •     Jedenfalls aber mit einem Inkrafttreten einer Vorhaltevergütung wird m.E. aber das gesamte Konstrukt obsolet.
  • Nach Auffassung des BSG ergibt sich die Gesetzgebungskompetenz für § 136c Abs. 4 SGB V aus Artikel 74 Abs. 1 Nr. 19a Grundgesetz (konkurrierende Gesetzgebung des Bundes für die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser und die Regelung der Krankenhauspflegesätze). Lt. BSG haben die vom GBA danach zu beschließenden Regelungen eine allein entgeltrechtliche Relevanz.

Das bedeutet, dass die Regelung somit nichts mit der Sicherung der Qualität  der Leistungserbringung zu tun hat. Sie ist insofern unzutreffend im neunten Abschnitt des SGB V verortet. Ob sie eher in das KHG oder das KHEntgG gehört, hat das BSG offengelassen.

Auch wenn das BSG in diesem Zusammenhang festhält, dass der GBA zu einer verbindlichen Regelung eines Systems der Notfallstrukturen im Krankenhaus noch (!!!) hinreichend legitimiert war  und in § 136c Abs. 4 SGB V eine ausreichende Anleitung für das Verfahren der Normsetzung und die inhaltliche Ausgestaltung des vom GBA zu entwickelnden Systems zu entnehmen ist, so wird damit m.E. jedenfalls deutlich, dass der Notfallstufenbeschluss nicht oder jedenfalls nicht ohne weiteres im Sinne von § 1 Abs. 1 KHG als Qualitätsvorgabe für die Landeskrankenhausplanung Gültigkeit beanspruchen kann. Ob und ggf. wie die Bundesländer dies künftig berücksichtigen bleibt freilich abzuwarten.

Unabhängig von den o.a. praktisch relevanten Auswirkungen, die mit dem Urteil verbunden sind, macht es den Krankenhäusern Hoffnung in verschiedener Hinsicht.

Zum einen hat das BSG – wenn auch indirekt – der Auffassung ein Absage erteilt, dass gegen die demokratische Legitimation des GBA grundsätzlich keine Zweifel bestünden. Dies hatte das LSG in der mit der Revision angegriffenen Entscheidung – freilich ohne sich die Mühe einer Begründung zu machen  – einfach in den Raum gestellt. Auch wenn das BSG im vorliegenden Fall diese demokratische Legitimation noch für begründet erachtet hat (bei der mündlichen Urteilsbegründung war die Rede von „gerade noch“) so wird damit deutlich, dass es sich einer Prüfung dieser demokratischen Legitimation nicht grundsätzlich entziehen will.

Das BSG hat offensichtlich auch die Not der Krankenhäuser erkannt, die sich einem fast unentwirrbaren Geflecht untergesetzlicher Normen ausgesetzt sehen, die einen effektiven Rechtsschutz dagegen fast unmöglich machen. § 136c Abs. 4 SGB V, der darauf beruhende GBA-Beschluss und die Wechselwirkungen mit §§ 17b Abs. 1a KHG, 9 Abs. 1a Nr. 5 KHEntgG und der darauf beruhenden Notfallstufenvergütungsvereinbarung machen dies ganz besonders deutlich. Es ist aber vom Gesetzgeber zu verlangen, dass er diese Art der „Nichtregelung“ endlich aufgibt und sich seiner Verantwortung bewusst wird.  Die nicht abreißenden Diskussionen über das künftige Krankenhausfinanzierungsrecht lassen freilich das Gegenteil befürchten.

Das Urteil des BSG bestätigt schließlich im Ergebnis, dass es sich bei § 136c Abs. 4 SGB  und den darauf basierenden Beschlüssen des GBA und den Vereinbarungen der Spitzenverbänden der Selbstverwaltung um eine gigantische Umverteilung von Finanzmitteln handelt.

Solche Umverteilung von Finanzmitteln ist im Gesundheitswesen nichts neues – es sei nur an die Anschubfinanzierung für die Integrierte Versorgung vor ein paar Jahren erinnert. Nach der Entscheidung des BSG bleibt jedenfalls zu hoffen, dass der Gesetzgeber dies in Zukunft nicht mehr im Gewande der Qualitätssicherung versucht. Er tut damit der Qualitätssicherung keinen Gefallen und verbrennt nur Geld, das von den Leistungserbringern dringend benötigt wird.

Für Fragen in dem vorliegenden Zusammenhang stehen wir Ihnen selbstverständlich gerne zur Verfügung.

Jens Wernick             
Rechtsanwalt                                                

Rechtsanwaltskanzlei Jens Wernick

in Kooperation mit

GOEBEL FABIAN Rechtsanwälte PartG mbB

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